Sozialpolitik: Grundlagen

Sozialpolitik: Grundlagen
Sozialpolitik: Grundlagen
 
Sozialpolitik gestaltet die Fortentwicklung des sozialen Netzwerkes in modernen Industriegesellschaften. Während traditionell die Familie und private Zusammenschlüsse dem Einzelnen soziale Sicherheit bieten, reicht dies angesichts des starken Strukturwandels der Gesellschaft nicht mehr aus. Durch sozialpolitische Aktivität versucht deshalb der Staat oder sogar supranationale Organisationen wie die Europäische Union lenkend einzugreifen.
 
Aufgabe der Sozialpolitik ist im Allgemeinen die Sicherung eines adäquaten Einkommens während des gesamten Lebensverlaufes. Temporäre Situationen der Erwerbsunfähigkeit (z. B. Krankheit) oder permanente (z. B. hohes Alter) reduzieren das laufende Einkommen stark. Ausreichende Vorsorge kann jedoch Notsituationen verhindern. In der Bundesrepublik übernimmt das staatliche System der sozialen Sicherung einen großen Teil dieser Vorsorgeaktivität (z. B. durch die gesetzliche Rentenversicherung). Aber auch private Vorsorge (z. B. mittelsprivater Vermögensbildung) kann hinzutreten. Neben diesem ökonomischen Ziel will Sozialpolitik auch den sozialen Frieden einer Gesellschaft sichern. Wirtschaftlicher Strukturwandel bringt Kosten mit sich. Beispielsweise müssen Arbeitskräfte entlassen oder Betriebszweige geschlossen werden. Sozialpolitik versucht, dem notwendigen Strukturwandel einer Volkswirtschaft die individuell spürbaren Härten zu nehmen (z. B. durch Arbeitslosengeld oder Umschulung) und somit dessen gesellschaftliche Akzeptanz zu erhöhen. Sozialpolitik trägt damit zur Stabilisierung einer Gesellschaft bei.
 
 Versicherung versus Umverteilung
 
Sozialpolitik in Deutschland ist quasi allgegenwärtig. Ein wichtiger Teil sozialstaatlicher Aktivität ist die klassische soziale Sicherung. Allein Kranken- und Rentenversicherung machten 1997 über 50 % des Sozialbudgets aus und bildeten somit die wichtigsten Ausgabenblöcke. Lenkend greift der Staat aber etwa auch in die Bildung von privatem Vermögen ein, sei es durch die Vermögensbildungspolitik oder durch die Wohnungspolitik. Im weiteren Sinne wird ebenso die Bildungspolitik der Sozialpolitik zugerechnet.
 
Ökonomisch gesehen muss sozialpolitische Staatsaktivität in zwei Kategorien unterteilt werden: das Bereitstellen einer Versicherung oder reine Umverteilung. Im Falle außergewöhnlicher Belastungen (z. B. Armut oder Behinderung) führt die Staatsgewalt eine Umverteilung von Einkommen durch. Derartige Risiken sind generell weder periodisch wiederkehrend noch zu erwarten. Für das Ausmaß an Umverteilung sind in erster Linie moralische Werte bestimmend. Im Falle von Risiken im normalen Lebenszyklus (z. B. Einkommensausfall im Alter) bietet der Staat seinen Bürgern eine Versicherung an. Mitgliedschaft in der Sozialversicherung ist allgemein sogar Pflicht. Der staatliche Eingriff im Versicherungsbereich wird damit begründet, dass der Markt von selbst keine Versicherung zur Verfügung stellen wird. Dieses Marktversagen korrigiert der Staat mittels eigenem Angebot einer Versicherung. Allerdings ist es in Zeiten funktionierender Kapitalmärkte wie heute nicht klar, dass privat z. B. keine ausreichende Vorsorge für das Alter, das vorhersehbar ist, getroffen werden kann. Während staatliche Versicherungen zum Teil »privatisierbar« sind, gilt dies z. B. nicht für die Sozialhilfe. Sie ist ein reines Instrument zur Umverteilung und kann daher nur durch den Staat geleistet werden.
 
 Grenzen der Sozialpolitik
 
Die Größe des Sozialbudgets ist nicht nur absolut, sondern auch relativ zum Bruttosozialprodukt (Sozialquote) stetig gewachsen. Dies ist nicht unbedingt problematisch, wenn mit steigendem Einkommen die Nachfrage nach sozialer Sicherheit überproportional zunimmt. Von der Seite der Haushalte betrachtet, stellt die hohe Belastung mit Sozialabgaben allerdings einen Anreiz dar, aus dem System auszuscheren und Abgaben zu vermeiden. Legale Möglichkeit dazu bietet die Selbstständigkeit, illegal ist die Schwarzarbeit. Während bei Selbstständigkeit der Staat keine Sozialbeiträge mehr erheben kann, reduziert sich bei Schwarzarbeit zudem die Steuergrundlage. Von der Seite der Unternehmen betrachtet, stellt eine hohe Belastung mit Sozialabgaben gleichfalls eine Bürde dar, da sie direkt die Arbeitskosten erhöhen. Zwar kann ein hoher Lohn inklusive der Lohnnebenkosten auch eine hohe Produktivität der Arbeit widerspiegeln, doch zeigen internationale Vergleiche, dass Deutschland einen relativ hohen Anteil der Lohnnebenkosten am Gesamtlohn hat. Falls zudem Ineffizienzen in der Sozialversicherung vorliegen, gilt das Argument nicht, dass Arbeitnehmer bei privater Vorsorge ebenso hohe Gesamtlöhne benötigten, um sich nicht schlechter zu stellen. Die Grenzen der Sozialpolitik scheinen dort erreicht, wo die Solidarität zwischen den Generationen gefährdet ist. Dies gilt für die Rentenversicherung. Wenn die Lohnnebenkosten zu einem wichtigen Standortfaktor werden und Investitionsentscheidungen beeinträchtigen, gerät der Strukturwandel in Gefahr, dessen individuelle Härten die Sozialpolitik gleichmäßiger verteilen will.

Universal-Lexikon. 2012.

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